Ulrich Mattes

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  "bullet trap" (Kugelfang)

Die Modelle

Beide Modelle sind um eine Porzellankugel gebaut. Das eine erinnert an eine archäologische Ausgrabungsstätte, das andere an einen Stapellauf.

Die Porzellankugeln sind nach einer Adaption der berühmten Delfter Kacheln blau auf weißem Grund verziert. Sie tragen eine lange Tradition des häuslichen Wandschmucks, gepaart mit schützender Funktionalität gegen Feuchtigkeit und Abnutzung. Als Kugel bilden sie einen je eigenen "Planeten", der für diese Tradition der Häuslichkeit steht. Bei der Kugel des "Stapellaufs" herrscht der Weißanteil, die helle und freundliche Stimmung vor. Bei der "archäologischen" Kugel herrscht der dunkle Blauanteil, die Nachtstimmung vor.

Beide Modelle lassen keine Rückschlüsse auf die laufenden Bauarbeiten zu. Arbeiter/innen sind nicht zu sehen und auch Zugänge zu den beiden "Werkstätten" sind nicht auszumachen, lediglich zwei Situationsbeschreibungen ohne konkrete Anhaltspunkte auf das, was bisher augenscheinlich geleistet wurde oder noch geleistet werden muß. Als Baustellen an der Vergangenheit bzw. an der Zukunft wollen sie nicht prophezeien, sondern symbolisch den status quo eines Arbeitsprozesses feststellen, Objekte zum Philosophieren ...

Die beiden Sockelgerüste könnten auch ein Reiterstandbild tragen, haben aber auch Ähnlichkeit mit einem Beistelltisch, der zur Ablage täglich anfallender Gebrauchsgegenstände wie Zeitungen, Bücher, CD-Hüllen usw. taugt - und eben auch als visueller Fixpunkt, auf dem die Gedanken der (Un)Gewissheit ruhen, die uns nie ganz verlassen. Wie oft starren wir gedankenverloren in den Raum, fixieren ein Stuhlbein, eine Tischkante, eine Vase, um dort visuell einen Halt zu finden, der sich als Gedanke oder Gefühl anders nicht herstellen läßt. Die Gestaltung der eigenen Privatsphäre hat am Gelingen eines entspannten Blicks auf sich selbst für viele Menschen einen fast kultischen Status. Hier bauen wir uns die Sockel, von denen herab wir die Welt betrachten und die Höhlen, in die wir uns von der Welt zurückziehen.

So gesehen sind die beiden Modelle Visualisierungen für kollektiv Unausgesprochenes und Unaussprechbares, Modelle für einen "missing link", die fehlenden Glieder in einer beliebigen Kette von Ereignissen, die uns unbekannt dennoch aus der Vergangenheit in diese Gegenwart und von hier aus in eine wie auch immer angestrebte Zukunft tragen. "Erfahrung ist wie eine Laterne auf unserem Rücken: sie erhellt nur das, was hinter uns liegt." (anonym)

Die Kugelbilder-Puzzles

Die 9 ist die höchste einstellige Zahl im Dezimalsystem. Das Zahlwort neun könnte vielleicht zu der indogermanischen Wurzel für neu gehören. Demnach hätte man mit je vier Fingern einer Hand gezählt und bei der Neun "neu" zu zählen angefangen. Und die 9 gilt als Zahl der Vollkommenheit, Mythologien und Glaubensgemeinschaften wetteifern um ihre Gunst.

Neun Buchstaben auf einem Haufen: "k", "o", "l", "l", "e", "k", "t", "i" und "v". Nicht das versal geschriebene Substantiv, klein, ein Eigenschaftswort. Ist die Ansammlung von Buchstaben einmal zusammengesetzt und damit zugleich auch der verbindende Sinn ihres gemeinsamen Erscheinens definiert, kann im weiteren Spiel auf die Lesbarkeit verzichtet werden. Ab sofort werden die ästhetischen Bild-Muster interessant, die aus der Buchstabenverteilung gewonnen werden können. Die möglichen Zerteilungen des Bildes geben Verfahrensweisen im Denken und Fühlen preis: In der Strenge eines Kreuzes angeordnet, als Schmückung der Ränder genutzt, bisweilen bleiben Leerstellen, Zentren schaffen, eine Anordnung für's Kegelspiel läßt sich stellen: alle neune! Doch je einfacher die Anordnung, desto uninteressanter mutet uns die Bildgestalt an und wir suchen nach Bedeutungen jenseits des visuellen Reizes. Aber zu konfus darf die Figur auch nicht werden, sonst verlieren wir das Interesse an der Bedeutungssuche.

Ein berühmtes psychologisches Experiment zeigt, dass eine Gemeinschaft von Probant/innen diejenige Person unter ihnen für besonders schlau hält, die die komplizierteste Erklärung für einen Sachverhalt präsentiert, ungeachtet, ob diese Erklärung irgend einen Wahrheitsgehalt aufweist. Am Ende sind wir geneigt, dem komplexesten Modell Vertrauen zu schenken, selbst wenn es gar keine Lösung der ursprünglichen Fragestellung ermöglicht.

Ach ja: Es fällt uns weiterhin schwer, die Rückseite des Mondes einzusehen und die Erde gleicht noch immer einer Kartoffel ...

Die Konzeption als PDF
www.ulrich-mattes.de